Armut und Ungleichheit

Oliver Hümbelin und Rudolf Farys

Es lebt sich gut in der Schweiz. Sogar ausgezeichnet. Gemäss Bundesamt für Statistik (BFS) gehört die Schweiz zu den Ländern mit dem höchsten Lebensstandard in Europa. Trotzdem gilt ein Teil der in der Schweiz lebenden Bevölkerung gemäss den Richtlinien der Sozialhilfe als arm (BFS SILC, 2012: 7.7% ). Doch was heisst Armut in einem reichen Land wie der Schweiz? Den Empfehlungen der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) folgend gelten Menschen als arm, deren finanzielle Situation es nicht erlaubt, grundlegende Güter für ein gesellschaftlich integriertes Leben zu erwerben. Rechnerisch umfasst die so definierte Armutsgrenze eine monatliche Pauschale für den Lebensunterhalt, einen ortsüblichen Betrag für die Wohnkosten und den Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Hochgerechnet auf ein Jahreseinkommen lag die Schwelle der Armut 2012 für eine Einzelperson gemäss Bundesamt für Statistik bei rund 26‘400 CHF und für einen Paarhaushalt mit zwei Kindern bei 48‘600 CHF. Demgegenüber verwendet der relative Armutsansatz einen Schwellenwert, der sich am üblichen Einkommensniveau eines Landes orientiert. Damit ändert sich auch die Interpretation, weshalb beim Armutsindikator nach relativem Ansatz häufig von der Armutsgefährdung anstatt von Armut im engeren Sinne gesprochen wird. Der relative Ansatz impliziert zudem eine subjektive Komponente von Armut, weil die eigene Situation mit dem landesspezifischen Wohlstandsniveau verglichen wird und dieser Definition folgend jemand unabhängig von der materiellen Bedürftigkeit als arm gelten kann.

Armutsquoten mit Steuerdaten berechnen
Für die Berechnung von absoluten und relativen Armutsquoten bringen Steuerdaten einige Vorteile mit sich. Erstens sind in Steuerdaten die finanziellen Ressourcen umfassend abgebildet. Damit können Armutsquoten unter Einbezug von Einkommen und Vermögen berechnet werden. Zweitens kann der Logik des subjektiven Vergleichs folgend, wie sie beim relativen Ansatz zur Anwendung kommt, gefragt werden, ob das Wohlstandsniveau der Schweiz als Bezugsgrösse angemessen ist oder nicht doch eher der Wohlstand, der in der unmittelbaren Lebenswelt wahrgenommen wird. Hier bringen die Steuerdaten den Vorteil, dass sie aussagekräftig bis auf Gemeindeebene sind und bei der Berechnung der Armut gemäss dem relativen Ansatz daher das Wohlstandsniveau der Gemeinden verwendet werden kann. Nachfolgend zeigen wir für den Kanton Bern auf, wie sich die Armutsquoten auf Gemeindeebene verändern, wenn die beiden beschriebenen Konzepte umgesetzt werden. Für die Berechnung der absoluten Armutsquote haben wir überprüft, wie gross der Anteil an Haushalten ist, deren verfügbares Einkommen unter der Schwelle der Bedürftigkeit nach den Richtlinien der SKOS zu liegen kommt (vgl. methodischer Anhang). Nicht berücksichtigt sind dabei nicht zu versteuernde bedarfsabhängige Leistungen wie Sozialhilfe und Ergänzungsleistungen. Es handelt sich daher um eine Armutsquote vor den institutionellen Massnahmen gegen Armut, die aufzeigt, wie hoch der Anteil Personen in den Gemeinden ist, die potenziell Ansprüche auf Sozialhilfe oder Ergänzungsleistungen geltend machen könnten. Diese absolute Quote haben wir mit einer Quote verglichen, die dem relativen Ansatz folgt (Armutsschwelle bei 50% des medianen Äquivalenzeinkommens der jeweiligen Gemeinde). Während die Armutsschwelle im Rahmen des absoluten Ansatzes über den ganzen Kanton identisch berechnet wird, variiert der Schwellenwert gemäss dem regional relativen Ansatz stark. In der Gemeinde Saxeten gilt ein Einpersonenhaushalt nach relativem Ansatz bspw. als arm, wenn sein Jahreseinkommen unterhalb 21‘225 CHF liegt. In Mörigen, der reichsten Gemeinde von Bern, liegt die relative Armutsschwelle eines Einpersonenhaushaltes entsprechend höher bei einem Jahreseinkommen von 51‘410 CHF.

Karte 1 – Armutskarte absoluter Ansatz, Steuerdaten Kanton Bern 2012

Absolute Armutsquoten im Kanton Bern
Die Auswertungen der Berner Steuerdaten zeigen, dass die mittlere absolute Armutsquote bei 5.5% liegt. Die regionalen Unterschiede sind erheblich. Ausgehend von diesem kantonalen Durchschnittswert sind in der interaktiven Grafik Gemeinden mit überdurchschnittlicher Armutsquote rot und solche mit unterdurchschnittlicher grün eingefärbt. Fahren Sie mit der Maus über die entsprechenden Gemeinden um sich die Armutsquote anzeigen zu lassen. Besonders die Gemeinden des bernischen Juras weisen eine hohe Armutsquote auf. Zu den Gemeinden mit der höchsten Quote gehören etwa Saint-Imier (16.7%), die Stadt Biel (16.7%) und Châtelat (16.0%). Generell fällt die Armutsquote in den Städten eher überdurchschnittlich aus: wie etwa in Ostermundigen (12.0%), Langenthal (10.0%), Bern (10.5%), Burgdorf (8.8%) oder Thun (7.9%). Sie fällt jedoch auch in kleineren, agrarischen Gemeinden rund um den Thunersee besonders hoch aus wie in Teuffenthal (14.6%), Horrenbach-Buchen (12.2%) und Saxeten (12.3%). Demgegenüber ist die Armutsquote in den ländlichen Gemeinden in der Tendenz tiefer. Besonders tief ist sie in den eher reichen Gemeinden, die sich in der Agglomeration von Bern befinden (z.B. Bremgarten bei Bern, 2.5%), entlang der Aare zwischen Bern und Thun (z.B. Jaberg, 1.1%) und im Seeland – besonders an den südlichen Ufern des Bielersees (z.B. Hagneck 1.6%).

Absolute und relative Armutsquoten im Vergleich
Mit dem Wechsel hin zur relativen Armutsperspektive, die das kommunale Wohlstandsniveau als Ausgangspunkt der Armutsschwelle verwendet, fällt die Armutsquote im Mittel höher aus und liegt neu bei 9.9%. In Gemeinden mit besonders hohem Wohlstandsniveau steigt die Armutsquote markant an. Beispielweise in Mühledorf, wo die Armutsquote von 2.2% (absolut) auf 20.5% (relativ) steigt. In anderen Gemeinden fällt die Armutsquote tiefer aus, weil die Einkommen in diesen Gemeinden generell eher tief sind. Dazu gehören viele Gemeinden des bernischen Juras oder auch die Gemeinden mit hoher absoluter Armutsquote um den Thunersee wie Horrenbach-Buchen (-5.9 Prozent-Punkte), Teuffenthal (-5.8 PP) und Saxeten (-5.7 PP). Besonders gut ersichtlich wird die Veränderung der Armutsquoten, wie es in der interaktiven Karte dargestellt ist. Grün eingefärbt sind jene 50% der Gemeinden, in denen die Armutsquote durch den regionalen Ansatz nur sehr wenig ansteigt oder sogar abnimmt. Rot eingefärbt sind jene 50% der Gemeinden mit deutlichem Anstieg der Armutsquote. Wenn Sie den Mauszeiger über eine Gemeinde führen, werden Ihnen die absolute und die relative Armutsquote angezeigt sowie die Armutsschwelle gemäss dem relativen Ansatz, die zwecks Vergleichbarkeit auf einen Einpersonenhaushalt umgerechnet ist.

Karte 2 – Veränderung der Armutsquoten im Vergleich von absoluter und relativer Armut, Steuerdaten Kanton Bern 2012

Armut und Ungleichheit.
Wie aus den Auswertungen ersichtlich wird, variieren die Armutsquoten je nach Ansatz erheblich. Der absolute Ansatz eignet sich sicherlich besser als sozialpolitische Zielgrösse, da die finanziellen Instrumente der Armutsbekämpfung (bspw. Sozialhilfe oder Ergänzungsleistungen) zu einer messbaren Reduktion von Armut führen. Beim relativen Ansatz ist Armut ist nicht mehr alleine eine Frage der materiellen Bedürftigkeit. Vielmehr ist der Indikator zusätzlich durch die kommunale Verteilung der ökonomischen Ressourcen mitbeeinflusst. Die Relevanz des relativen Armutindikators gewinnt im Lichte der Ungleichheitsforschung jedoch an Bedeutung. In einer kürzlich erschienenen Publikation findet Richard Layte im Vergleich von 27 Ländern einen konstanten Zusammenhang in Bezug auf die Ungleichheit materieller Ressourcen und dem psychosozialen Wohlbefinden. Mit zunehmender Ungleichheit sinkt die Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger im Schnitt. Während dieser Zusammenhang mehrfach belegt ist, scheiden sich die Geister ob der Frage, wie dieses Phänomen zu erklären sei. Selbst unter Kontrolle verschiedener Ursachen zeigt sich bei Richard Layte dabei ein stabiler Effekt der sogenannten Statusthese, die bereits von bekannten Forschern wie Richard Wilkinson oder Michael Marmot untersucht wurde. Den Wissenschaftlern folgend kann Einkommen und Einkommensungleichheit als eine Masszahl für die Hierarchie einer Gesellschaft verstanden werden. Negative psychologische Effekte ergeben sich gemäss dieser Logik aus der Selbstwahrnehmung des Individuums, in der gesellschaftlichen Ordnung einen tiefen Status einnehmen zu müssen. Menschen, die sich in der „Hackordnung“ weit unten befinden, sind eher unglücklich, fühlen sich gestresster und sind eher gefährdet krank zu werden. So gesehen ist Armut durchaus ein relatives Phänomen, das durch das gängige Wohlstandsniveau mitgeprägt wird.

Methodisches zur Berechnung der Armutsindikatoren

  • Population: Für die Analysen verwenden wir Steuerdaten, die uns im Rahmen des durch den Schweizerischen Nationalfonds geförderten Projektes: „Ungleichheit der Einkommen und Vermögen in der Schweiz“ freundlicherweise von der Berner Steuerverwaltung zur Verfügung gestellt wurden. Die Daten entsprechen einer Vollerhebung der Personen, die am 31.12.2012 ihren steuerrechtlichen Wohnsitz im Kanton Bern hatten. Auf der Basis des Eidgenössischen Gebäude- und Wohnungsidentifikators (EGID, EWID) ist es uns anhand einer anonymen Haushaltsidentifiaktionsnummer zudem möglich, zu eruieren, welche Steuersubjekte im gleichen Haushalt wohnen. Die statistische Einheit der Ausgangsanalysen sind demnach Haushalte. Die Armutsquote ist jedoch auf die Bevölkerungszahl umgerechnet, in dem die Haushalte unter der Armutsschwelle mit der Zahl der Haushaltsmitglieder multipliziert wurde und die so ermittelte Zahl der Armutsbetroffenen in Relation zum Total der Einwohner gesetzt wird (vgl. auch Berechnung der Armutsquoten weiter unten). Nicht Teil der Analysen sind Quellensteuerpflichtige. Ausgeschlossen haben wir weiter unterjährig Steuerpflichtige, Ermessenstaxierte, die nicht einem Haushalt mit regulärer Steuerveranlagung zugeordnet werden konnten und Kollektivhaushalte. Weil junge Erwachsene in Ausbildung häufig über wenig eigenes Einkommen verfügen, aber meist von ihren Eltern unterstützt werden und dies in den Steuerdaten nicht zu rekonstruieren ist, haben wir die Analysen weiter auf über 25-Jährige eingegrenzt.
  • Verfügbares (Äquivalenz)-Einkommen: Das verfügbare Einkommen errechnet sich aus dem Total der Einkünfte (Erwerbseinkommen aus selbst- und unselbständiger Erwerbstätigkeit, Sozialleistungen (Renten, Taggelder, Alimente), Vermögenseinkünften (aus Wertschriften und Liegenschaften) minus den obligatorischen Ausgaben (direkte Steuern (Gemeinde, Kirche, Bund), Sozialversicherungsbeiträge, bezahlte Alimente). Nicht als Einkommen berücksichtigen konnten wir nicht zu versteuernde bedarfsabhängige Leistungen (Sozialhilfe, Ergänzungsleistungen, etc.) und obligatorische Ausgaben wie Krankenkassenprämien. Damit Haushalte mit unterschiedlich grosser Zahl der Mitglieder vergleichbar sind, haben wir das verfügbare Haushaltseinkommen mit einer Äquivalenzskala gewichtet (Wurzel-Skala gemäss OECD).
  • Medianes Einkommen: Das mediane Einkommen bezeichnet dasjenige Einkommen das die nach der Höhe der Einkommen geordneten Haushalte in zwei gleich grosse Gruppen teilt. 50% verfügen über mehr als der Wert des medianen Einkommens und 50% verfügen über weniger.
  • Reinvermögen: Summe aller Vermögenskomponenten (Liegenschaften, Betriebsvermögen und bewegliches Vermögen) minus die Schulden.
  • Armutsquote, absoluter Ansatz: Zur Berechnung der Armutsquote mit dem absoluten Ansatz haben wir für jeden Haushalt geprüft, ob das verfügbare Einkommen unter der Schwelle der Bedürftigkeit gemäss SKOS zu liegen kommt. Vereinfachend ignorieren wir dabei, dass Mietkosten und die Krankenkassenprämien innerhalb des Kantones unterschiedlich hoch sind. Ähnlich wie bei der Prüfung durch einen Sozialdienst, haben wir jedoch Haushalte nicht als arm gewertet, wenn diese über bewegliches Vermögen von mehr als 10‘000 CHF verfügen. Die Quote errechnet sich schliesslich aus der Zahl der Armutsbetroffenen einer Gemeinde in Relation zum Total der Einwohner und Einwohnerinnen.
  • Armutsquote, relativer Ansatz: Für die Berechnung der relativen Armutsquote haben wir dem verfügbaren Haushaltseinkommen 5% des Reinvermögens hinzugerechnet. Damit wird der potentielle Vermögensverzehr abgebildet und dem Umstand Rechnung getragen, dass regionaler Wohlstand gerade in Form von Vermögenswerten gut sichtbar ist. Zur Berechnung der Quote haben wir anschliessend eruiert, ob das erweiterte Haushaltseinkommen (inkl. 5% Reinvermögen) tiefer als 50% des medianen Einkommens je Gemeinde zu liegen kommt.